27. April 2023

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Das Braunkehlchen, ein Titelträger ohne Heimat

 Angelika Greif

Eine Frage: Haben Sie diesen Vogel schon mal gesehen? Nein? Das wäre nicht verwunderlich, denn die Bestände des Braunkehlchens stehen in fast ganz Europa und vor allem bei uns in NRW auf der Roten Liste. Dennoch beziehungsweise gerade deshalb hat es sich bei der Kür um den Titel „Vogel des Jahres 2023“ gegen eine illustre Gesellschaft durchgesetzt. Nun, so ist das mit Auszeichnungen dieser Art. Im Gegensatz zu Berühmtheiten aus Film und Fernsehen wird man Vogel des Jahres gerade dann, wenn man in Gefahr ist, gänzlich in der Versenkung zu verschwinden.

Woran erkennt man Saxicola rubreta, wie das Braunkehlchen mit wissenschaftlichem Namen heißt? Es ist circa zwölf bis 14 Zentimeter groß, also in etwa so groß wie ein Rotkehlchen, Männchen und Weibchen haben beide eine orangebraune Kehle und Brust, Kopf und Rücken sind braun mit dunklen Flecken. Die Weibchen sind insgesamt dezenter gefärbt, markant bei Tieren beiderlei Geschlechts und jeden Alters ist der leuchtend weiße Überaugenstreif, der ihnen auch den Spitznamen „Wiesenclown“ eingetragen hat.

Womit wir beim Lebensraum des Braunkehlchens wären. Es braucht blütenreiche Wiesen in extensiv genutztem Grünland, mit einem reichhaltigen Angebot an Insekten, Würmern, Schnecken und Spinnen. Stauden oder ersatzweise Weidezäune dienen dem kleinen Jäger als Ansitzwarten und sind wesentliche Voraussetzung für ein geeignetes Brutrevier. Im Herbst werden Früchte von Wildsträuchern und Samen auch gerne genommen. Seinen Nachwuchs zieht das Braunkehlchen in einem möglichst geschützten Bodennest auf. Das ist ganz schön anspruchsvoll für einen Brüter in den Agrarlandschaften der Europäischen Union unserer Tage, kleiner Vogel!

Die Europäische Union und ihre Agrarpolitik hat durchaus viel zu tun mit dem Überleben der Braunkehlchen beziehungsweise ihrer Gefährdung. Denn was die Vermehrung angeht, ist das Braunkehlchen ein alteingesessener Europäer. 75 Prozent der Weltpopulation des Braunkehlchens brüten in Agrarlandschaften der Europäischen Union, und das mit immer weniger Erfolg.

Warum das so ist? Braunkehlchen sind Langstreckenzieher, das heißt sie fliegen im Herbst 5000 Kilometer in ihre Winterquartiere bis ins südliche Afrika und kehren im Frühjahr entsprechend spät, nämlich jetzt im April, in die europäischen Brutgebiete zurück. So bleibt in der Vegetationsperiode nur noch Zeit für lediglich eine Brut.

Und auch wenn die Altvögel tatsächlich in unserer Intensivlandwirtschaft noch die wenigen strukturreichen Agrarflächen finden, die sie benötigen mit dem Nahrungsreichtum, den sie zur Aufzucht der Jungen brauchen, auch wenn die Jungen unbehelligt bleiben von frei laufenden, räuberischen Wild- und Haustieren: Das gesamte Gelege der Saison wird mit Sicherheit vernichtet, wenn die Mahd wie üblich vor dem 15. Juli erfolgt. Denn die Jungen bräuchten dann nur noch wenige Tage, um das Bodennest zu verlassen.

Und so geht es dem Braunkehlchen in NRW besonders schlecht. Ursprünglich war es zahlreich in den feuchten Wiesen- und Weidelandschaften des niederrheinischen und westfälischen Tieflandes. Heute ist es im Tiefland von NRW ausgestorben. Lediglich in den unter Naturschutz stehenden Flächen der Mittelgebirge NRWs haben die Vögel noch die Chance, ihre Bruten großzuziehen. Dabei ist auch die innererartliche Konkurrenz nicht mehr besonders groß. Der Bestand wird aktuell auf 180 bis 200 Brutpaare geschätzt.

Und was hat nun das Braunkehlchen von seinem Titel „Vogel des Jahres 2023“? Traurige Berühmtheit? Um den gavierenden Abwärtstrend der Bestandszahlen zu stoppen, wird es viel mehr erfordern als Hunde anzuleinen (was allen Bodenbrütern zugute kommt) und Produkte aus ökologischer Landwirtschaft zu kaufen. Aber das ist schon mal ein Anfang.

 

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zuletzt bearbeitet am 9.V.2023