17. Febr. 2022

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Warum treiben aus einer Kartoffel Wurzeln aus? - Sprossbürtige Wurzeln

 Joachim Schmitz

Bei Wirbeltieren sind Zahl und Anordnung der Organe ziemlich genau festgelegt. Wenn man von einem aggressiven Zeitgenossen angemacht wird: „Ich nummerier dir deine Knochen einzeln“; dann weiß der vermutlich gar nicht, wie recht er mit dieser Aussage hat. Wirbeltiere haben tatsächlich eine in engen Grenzen schwankende Zahl von Knochen. Beim Menschen sind es nach unterschiedlichen Quellen 206 bis 212 Knochen. Die Abweichungen beruhen aber nur auf ein paar nebensächlichen Versteifungen, die es nicht immer vom Knorpel zum Knochen bringen. Das Skelett ist immer gleich und die einzelnen Knochen sind buchstäblich abzählbar.

Pflanzen sind ganz anders aufgebaut. Höhere Pflanzen bestehen nur aus drei Grundorganen: Achse (=Stängel), Blatt (bilden mit der Achse zusammen den Spross ) und Wurzel. Das ist wie ein Spielzeugbaukasten, der aus nur wenigen Grundelementen besteht, die aber vielfach kombiniert werden können. Dafür gibt es allerdings strenge Regeln.

Grundsätzlich sind Pflanzen bipolar organisiert. Nach oben wächst der Sprosspol, der im Laufe seines Lebens immer neue Blätter und Seitensprosse produziert. Auch Blüten sind in diesem Sinne nichts anderes als kurze Sprosse mit speziell umgestalteten Blättern. Am entgegengesetzten Ende ist der Wurzelpol. Hier wächst zunächst die Hauptwurzel in den Boden, von der alsbald Seitenwurzeln abzweigen. Diese Grundorganisation kann man in jeder Kresseschale aus dem Supermarkt studieren. (Die Bezeichnung „Sprosse“ für solche gerade gekeimte Pflanzen ist botanisch zumindest irreführend; denn Sprosse hat eine Pflanze ihr Leben lang. Das Keimlinge zu nennen, wäre genauer.)

Blätter können nur an Achsen entstehen, Seitentriebe können nicht irgendwo am Stängel sondern nur aus dem Winkel zwischen Blatt und Achse entspringen und Wurzeln sollten nur aus Wurzeln abzweigen. Sollten. Tun sie aber nicht immer. Es gibt auch Wurzeln, die direkt aus einem Stängel entspringen. Das nennt man dann sprossbürtige Wurzeln.

Damit das überhaupt möglich ist, müssen eigentlich schon ausdifferenzierte, „erwachsene“ Zellen des Stängelgewebes in einen omnipotenten Jugendzustand zurückversetzt werden. Bei Tieren würde man sagen, sie werden wieder zu Stammzellen. Bei Pflanzen heißt das: die Zellen reembryonalisieren.

Sprossbürtige Wurzeln sind gar nicht so selten. Fast alle ausdauernden Pflanzen mit kriechendem Wurzelstock (Rhizom) verlieren irgendwann den Kontakt zur Hauptwurzel am Ursprung des Rhizoms und müssen das durch sprossbürtige Wurzeln ausgleichen. Das kann man z.B. gut an Kartoffeln sehen. Kartoffeln sind unterirdische Sprossknollen. Wenn sie an den „Augen“ austreiben, entwickeln sie dort auch direkt Wurzeln.

Die Fähigkeit, aus Stängeln Wurzeln austreiben zu lassen, macht man sich auch bei der Stecklingsvermehrung zu Nutze. In der Natur kommt das eher selten vor, z.B. bei manchen Weidenarten, bei denen ein abgebrochener Zweig im Uferschlamm sofort wieder austreibt. Im Gartenbau ist das gängige Praxis und zur Not hilft man dann auch mit Pflanzenhormonen nach.

Bei den Einkeimblättrigen (Gräser, Liliengewächse, Zwiebeln usw.) ist es sogar einprogrammiert, dass die Hauptwurzel frühzeitig den Geist aufgibt. Schon beim Keimling müssen sprossbürtige Wurzeln sehr schnell die Funktion der Hauptwurzel übernehmen.

Diese Brombeere wächst in flachem Bogen über den Boden, wurzelt im Herbst am Ende wieder ein, und bildet so richtige Fallstricke.

 

Sprossbürtige Wurzeln am Grund einer Maispflanze. Manche schaffen es gar nicht mehr in den Boden und bleiben als funktionslose Stummel stehen.

 

voriger Artikel ← | → nächster Artikel

Auswahl nach Erscheinungsdatum

Auswahl nach Themenstichwort

Startseite

zuletzt bearbeitet am 1.III.2022