27. April 2017

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Das Christophskraut, eine Mythen- und Hexenpflanze unserer Wälder

Karl Josef Strank

Im Schatten von Laubwäldern, besonders an etwas feuchteren Stellen, wächst das Christophskraut. Es ist eine Staude, die aus ihrem Wurzelstock mehrere, oft mehr als 50 Zentimeter hohe ästige Stängel treibt. Die im Umriss fünfeckigen Blätter sind groß und dreiteilig gefiedert. Die Fiederblättchen sind grob gesägt. In eiförmig gedrängten Tauben stehen die kleinen weißen Blüten an der Spitze der Stängel oder in den Blattachseln.

Die Blütenhüllblätter fallen leicht ab und die vielen Staubblätter bestimmen das Bild. Die Frucht ist eine erbsengroße, schwarzglänzende Beere, die mehrere platt-gedrückte Samen enthält. Das Chris-tophskraut ist eine ansehnliche Erscheinung unserer Wälder und wird auch als Feuerkraut bezeichnet.

Den botanischen Namen Actaea spicata hat es von Aktaion, einem leidenschaftlichen Jäger der griechischen Mythologie. Er soll sich gerühmt haben, ein besserer Jäger zu sein als Artemis, eine Beleidigung für die Göttin der Jagd. Ovid überliefert die Geschichte anders. Danach durchstreifte Aktaion die Wälder und überraschte Artemis unabsichtlich, als sie im Kreise ihrer Nymphen ein Bad nahm. Daraufhin verwandelte die erzürnte Göttin den ungebetenen Spanner in einen röhrenden Hirsch. Seinen Hunden verfütterte sie die Früchte des Christophskrautes, woraufhin diese in Wildheit entbrannten. Sie hetzten den Hirsch zu Tode und zerfleischten in ihrer Raserei Aktaion, das tragische Ende des Jägers durch die eigene Meute.

Das Christophskraut blüht Mitte Juni und galt wie alle Sonnenwendeblüher als unheilabweisend, wenn von da an die Nächte wieder länger wurden. Als ein berühmtes Gift- und Zauberkraut wurde es auch mit Namen wie Berufs-, Beschrei-, Hexenkraut und Heidnisch Wundkraut belegt. Später wurde es wegen seiner angeblichen Wirksamkeit gegen die Pest nach dem Schutzpatron der Pestkranken, dem heiligen Christophorus, benannt. Mit dem Saft der schwarzen Beeren versuchte man, die Seuche zu behandeln.

Mythologisch war Christophorus der Mensch mit dem Hundekopf, Kynocephalus, der Vermittler zwischen Leben und Tod. Nach der Legende trug der Heilige das Jesuskind über den Fluss. Als Patron der Reisenden bot er mächtigen Schutz gegen unversehens eintretende Unfälle mit Todesfolge, und der Volksglaube beförderte ihn zum Meister aller Geister und Herrn der unterirdischen Schätze. Bezeichnenderweise heißt die Pflanze in Norwegen Trollbeere. Bemühte jemand den Heiligen, um die dämonischen Schutzgeister zu beschwören, rezitierte er ein besonderes Christophorusgebet. Das Herbeten der Formel nannte man „christopheln“.

Bei den Germanen war das Kraut dem Thor geweiht. Dieser donnernde Gott offenbarte gelegentlich mit seinen Blitzen kostbare Schätze, wenn auch nur im übertragenen Sinn in Form von Geistesblitzen. Magisch verwendete man das Kraut, um jemandem Übles anzuhexen und um solches zu entfernen, legte man es dem Leidenden ins Bett. In der Schweiz herrschte der Volksglaube, dass es eine Hexe, der das Christophskraut morgens vor die Schlafkammer gelegt wurde, daran hindere herauszutreten.

Als Droge wird die Pflanze heute noch in der Homöopathie verwendet. Dazu werden die unterirdischen Teile nach dem Austrieb der Sprosse aber vor der Blüte gesammelt. Inhaltsstoffe sind Isochinolinalkaloide wie Magnoflorin, Triterpensaponine, trans-Aconitsäure. Die homöopathischen Zubereitungen werden bei Rheumaschmerzen der Hand- und Fingergelenke verabreicht. Die Beeren gelten seit alters als giftig, obwohl keine Giftstoffe nachgewiesen werden konnten. Vom Verzehr wird abgeraten.

Heiliges Medizinbündel

Das Christophskraut ist mit mehreren Arten in den Wäldern der Nordhemisphäre verbreitet. Bei den Cheyenne-Indianern Nordamerikas sind die Wurzeln Bestandteil des heiligen Medizinbündels des Stammes. Sie halten das Kraut für den irdisch leiblichen Ausdruck ihres mythischen Stammvaters und Kulturschöpfers „Sweet Medicine“, der, nachdem er lange beim Stamm gelebt hatte, unter der spiegelnden Oberfläche eines Sees entschwand.

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zuletzt bearbeitet am 19.VII.2017